Ein Leben im Vergleich

„Mensch sein heißt sich zu vergleichen“ … diesen Satz kenne ich seit den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts. Er stammt von einem der Urväter der Psychologie: Alfred Adler. In den Jahrzehnten darauf wurden mir diese Worte im eigenen Leben und auch aus den vielen Begleitungen anderer Menschen immer wieder bestätigt … er schien wahr und so „natürlich“. Heute weiß ich, dass diese Aussage weder wahr, noch natürlich ist. Sie dient lediglich dem Konkurrenzkampf zwischen uns Menschen und soll uns beschäftigen, um nicht zu uns selbst zu finden. Das war sicher nicht unbedingt die Absicht von Alfred Adler, sondern eher dem Zeitgeist entsprungen.

Im Vergleich reihen wir uns wie kleine, maschinell hergestellte Holzkugeln in einer Kette auf und schauen, dass wir nicht durch Andersartigkeit auffallen oder unseren Platz verlieren, denn ein Platz in der Kette erscheint uns überlebenswichtig. Das ist er allerdings auch, doch nur in der Zeit unserer Kindheit, in der wir uns nicht selber versorgen können und auf die Familie angewiesen sind. Später hindert uns ein Vergleich mit anderen daran, unsere ganz eigenen Potentiale zu entwickeln.

Im Wahn des Vergleichens sind wir ständig im Außen, messen uns, sehen uns mal oben und mal unten, mal stärker und mal schwächer, mal vorne und mal hinten, mal größer und mal kleiner … als wenn es im Leben überhaupt darum ginge. Die Forschung hat schon längst festgestellt, dass der Mensch auf Kooperation ausgerichtet ist und nicht auf Konkurrieren. Also ist der Vergleich alles andere als „natürlich“! Er ist gegen unsere Natur gerichtet und strengt uns ein Leben lang ungeheuer an! 

Konkurrenz soll uns „anspornen“, das lernen bereits die Kleinsten in den offiziellen Kindergärten und Schulen, die ja meist ohnehin nicht an den Fähigkeiten und Talente, die ein Kind mitbringt, interessiert sind oder sie gar noch weiter entwickeln wollen. Wer ist der Beste, wer ist der Schlechteste? Wer ist beliebt und wer ist der Underdog?Mit dem Vergleich bringen wir nicht nur den Kampf in unser Leben, wir sorgen auch für Schuld- und Schamgefühle … mal bei uns und mal beim Anderen. Das hängt davon ab, ob wir uns gerade oben oder unten empfinden. 

Wenn es nicht um den Kampf und nicht um den Vergleich geht … worum geht es dann in unserem Leben? Was geschieht, wenn wir damit aufhören, uns zu vergleichen? Was geschieht, wenn wir uns einfach nicht mehr messen? Was geschieht, wenn es uns nicht mehr „anspornt“ die Beste, der Schnellste… was auch immer … zu sein? Was bleibt dann noch übrig? 

Es lohnt sich wirklich, zu beobachten, wie häufig wir uns in ganz belanglosen oder auch in wichtigen Situationen mit anderen vergleichen. Und das ist ja nicht die einzige Vergleichsmöglichkeit. Wir können uns ja auch noch mit uns selber – zu anderen Zeiten – vergleichen. Was kann ich heute im fortgeschrittenen Alter nicht mehr, was ich mit 20 oder 30 noch konnte? Die Gefühle, die ohne Vergleich entstehen, könnten eine Überraschung beinhalten.

Also: was geschieht, wenn wir aufhören uns zu vergleichen?

Dann schauen wir nicht mehr aufs Außen … wir sind plötzlich ganz mit uns alleine. Wir brauchen auch kein Feinbild mehr, was gerade in diesen Zeiten die höchste Friedensarbeit darstellt. Unser ganzes egomanische Blendwerk fällt unter Umständen wie ein Kartenhaus zusammen und wir sind nur noch auf uns „zurückgeworfen“. Und was sehen wir dann? Wir sehen, was wir ohne Kampf sind … wir sehen einfach „nur“ uns! Unsere Talente, unsere Fähigkeiten, unsere Muster, unser Sein … und alles steht da und darf sein, ohne von uns und anderen gemessen, gewogen und für gut oder nicht gut erklärt zu werden  … alles darf einfach nur unvergleichlich sein. 

Allein beim Schreiben dieses Satzes kehrt Entspannung ein … eine Entspannung, die wir kennen, wenn der Kampf vorbei ist. Wer in sich jetzt die Sehnsucht nach dem Ende des Kampfes und die darauf folgende Entspannung spürt, weiß was zu tun ist: sich einfach nicht mehr zu vergleichen und wieder als unvergleichliches Individuum zu empfinden! So werden wir von der maschinell hergestellten Holzkugel zu einer ungleichen und damit nicht vergleichbaren Süßwasserperle: individuell und schön!